Kein Gemälde ohne Kontrast
Die Gipfel des Alltags nennen sich Zeitkontraste. Bleiben sie aus, gehen wir ein, wie eine Pflanze ohne gemischtes Wetter. Dies bedeutet nicht, dass wir täglich mit Bären kämpfen, von Klippen springen und mit Kettensägen jonglieren müssen. Zeitkontraste bilden sich subjektiv, gemäss den Charakteren und Vorlieben. Zudem sind Zeitkontraste weder positiv noch negativ definiert. Ein schlimmes, gar grausames Erlebnis hinterlässt ebenso einen Kontrast in der Lebenszeit, wie ein Erlebnis voller Glücksgefühle. Positive Zeitkontraste können Hobbys sein; ein spannendes Buch, ein Spaziergang in der Natur, Zeit mit geliebten Menschen, auf ein Konzert gehen oder Zeit für sich nehmen.
So wie es Zeitkontraste benötigt, so kommen wir um eine Balance zwischen schlechten und guten Erlebnissen nicht herum. Jeden Tag im Lotto zu gewinnen würde sich bald anfühlen wie ein normaler Lohn. Um sich vor Abstumpfung zu schützen, sollten die Zeitkontraste nicht zu nahe beieinander stehen und von variantenreicher Natur sein. Vermutlich sind sie der Grund, warum ein ewiges Leben irgendwann verleiden würde. Umso länger man lebt, umso schwieriger dürften Kontraste auf der Leinwand des eigenen Lebens zu malen sein.
Die Glücksfalle
Vorsicht! Mit gewissen Sichtweisen nähert man sich dem Grenzgebiet der Glückskekse. So lassen sich die Zeitkontraste plakativ in einen Spruch giessen: »Fülle deine Tage mit vielseitigen und erinnerungswürdigen Erlebnissen«. Dem wohnt im Kern ein Funken Wahrheit inne. Doch was nützt die schönste Weisheit, wenn man Rechnungen zu bezahlen hat, im Treibsand der gesellschaftlichen Pflichten absinkt und die Lotterie des Lebens unbarmherzig war. Geburtsort, soziale Schicht oder körperliche Gebrechen; das Resultat eines unfairen Würfelspiels. Es ist wie mit allen angeblichen Weisheiten, deren wahrhaftiger Wert sich dadurch bemisst, wie fest der »Schwitzkasten der Umstände« zupackt. Die Mehrheit der Gurus, Werbetexter, religiösen Führer bis zu Psychotherapeuten lassen das gerne ausser acht. Es kann gefährlich sein, indirekt oder direkt zu behaupten, mit der korrekten Lebensphilosophie, garniert mit ein paar Wünsche ans Universum, könne sich alles zum Guten wenden. Erzählen Sie das einem syrischen Mädchen, Vollwaise, nur noch klebende Stofffetzen am Leib, in einem zerbombten Stadtviertel in einer Pfütze sitzend, mit der verdreckten Brühe den Brand in der Kehle löschend und zu geschwächt, um den herannahenden Menschenhändler zu entfliehen.
Die Umstände, der Kontext und die eigenen Möglichkeiten, bilden manchmal eine unüberwindbare Wand, an denen alle Träume, Hoffnungen und positives Denken zerschmettern. Desto mehr Spielraum einem das Leben gewährt, desto mehr lässt es sich gestalten. Dies realistisch für sich und andere einzuschätzen, ist von elementarer Bedeutung.
Bis zum letzten Sandkorn
Der Sand in der Sanduhr scheint für viele Menschen immer schneller zu rieseln. Wobei man im Durchschnitt immer später das Zeitliche segnet. Wie ist das möglich? Wenn der Sand schneller rinnt, dann muss mehr Sand vorhanden sein. Durch aufgeschütteten Wohlstand, fortschrittliche Technologie und Medizin, haben wir eine höhere Lebenserwartung erwirtschaftet. Man stelle sich einmal vor, was für ein schönes Leben es wäre, wenn die Sanduhr mehr Sand beinhaltet, aber dennoch langsamer fliessen würde; immer noch knapp hundert Jahre alt werden, aber nicht in einem drögen Alltagssprint durchs ganze Leben hetzen.
Die Beschleunigung der Zeit hat uns der technologische Fortschritt eingebrockt. Früher transportierte ein Bote über etliche Tage eine Nachricht von A nach B. Das ist mittlerweile in Lichtgeschwindigkeit möglich. Zusätzlich haben Durchschnittsbürger auf mehr Informationen Zugriff als die elitärsten Gelehrten aller Epochen. Ein anderes abstruses Beispiel: Jemand mit Internetanschluss kann mehr nackte Menschen betrachten, als es die mächtigsten Herrscher zu früheren Lebzeiten jemals vermochten.
Der rasante Austausch von Informationen mündet in kürzeren Reaktionszeiten. Wir erhalten mehr Informationen und Nachrichten, haben aber gleichzeitig weniger Zeit um zu reagieren, geschweige denn zu verarbeiten. Hinzu kommt der kapitalistische Brandbeschleuniger, der das vergiftete Zitat formte: »Zeit ist Geld«.
Das Ziel muss sein, den subjektiven Zeitfluss zu verlangsamen. Wie gelingt dies? Wer privilegiert in der Lage ist, sein Leben vollständig zu formen, soll sich um seine Zeitkontraste kümmern und die einprasselnden Informationen filtern und drosseln. Damit das für die breite Masse möglich wird, muss sich das gesellschaftliche Leben ändern. Die einzige Lösung, die ich zurzeit sehe, ist die Künstliche Intelligenz im Zusammenspiel mit einer Art des »Sozialen Kapitalismus«. Die Technologie muss sich intensiver um sich selbst kümmern und uns Arbeit abnehmen. Diese Entlastung darf aber nicht von der Wirtschaft mit neuer Last gesühnt werden. Ein soziales Konstrukt muss sich schützend dazwischen werfen. Solange keine bessere Wirtschaftsform als der Kapitalismus das Sagen hat, wird das informative und gesellschaftliche Tempo hoch bleiben und weiter zunehmen, ob mit oder ohne Künstliche Intelligenz.
In ferner Zukunft werden womöglich digitale Kopien von uns die Geschäfte führen. Doch diese Utopie liegt gefährlich nahe an einer Dystopie. Eins aber scheint gewiss, die Technik muss autonomer werden oder unser wirtschaftliches System anders aufgebaut sein. Im besten Fall beides. Sonst hämmert die Hektik des technologischen Zeitalters weitere Risse in die Sanduhr. Stattdessen sollten wir die Sanduhr schützen und mit Zeitkontrasten bereichern, damit nicht nur ein volles, sondern ein erfülltes Leben mit dem letzten Sandkorn zu Ende geht.