Die Nacht der Nächte, den ganzen Tag hindurch

Social Media ist der angesagteste Club der Stadt, in den alle rein möchten um zu sehen und gesehen zu werden. In der abendlichen Vorbereitung werden Haare mit chirurgischer Präzision zu einem Kunstwerk von Frisur getrimmt. Der von Hormonen übersprudelnde Körper wird mit dem feinsten Zwirn eingekleidet und mit einem betörender Duft aus dem Chemielabor des heimischen Spiegelschrankes eingestäubt. Da stehen sie: die Poser, die Tanzverrückten, die Schüchternen, die Beobachter, die Schamlosen, die Pöbler und Testo-Bullen, die Clowns, die Verführer und die Schwätzer. Alle Stereotypen der Dorfdisco haben sich für die virtuelle Bühne schick gemacht.

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Eine blonde Frau tanzt an einer Party und ist fröhlich.

Streben nach Glücksmomenten

Es gibt Abende, da hat es einfach »Zoom« gemacht. Man versinkt in tiefgründigen Gesprächen, bekommt ein Six-Pack-Workout von den Lachmuskeln spendiert, und der Playlist-DJ hinter dem obligatorischen MacBook trifft bei jedem Lied den Geschmack der nach Hits lechzenden Meute. Dann gibt es Partys, da wird man dumm angepöbelt, sieht äusserst fragwürdige und verstörende Gepflogenheiten, die Drinks schmecken wie Putzmittel und die Stimmung kommt nicht über das Level »Schulkantine« hinaus.

Die grösste aller Partys, mitsamt all dieser Charakteristiken, heisst »Social Media«. Sämtliche Feierverrückten und Stereotypen buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Das ganze wird mit einem Kumpel gewürzt, der angeblich die besten Schuppen der Stadt kennt – echte Geheimtipps. In Wahrheit ist der Kumpel der beste Freund des Clubbesitzers, und der Schuppen eigentlich richtig scheisse. Dennoch folgt man seinem Vorschlag. Denn wer weiss, vielleicht kann der Laden ja doch was. 

Dieser eine Kollege meint sowieso zu wissen, was am besten für uns ist. Nennen wir diesen Freund »Algo«. Algo hat was im Blut? Genau, den Rhythmus. Fertig ist der Algorhytmus. Ok, der kam Flach und ist zudem falsch. Algorithmus, Rithmus nicht Rhythmus. Ich finde Rhythmus aber passender, da sich der Algorithmus in einem penibel durchchoreographierten Takt bewegt und uns seinen Rhythmus überstülpen möchte.

Sind es in der Realität vielleicht zwei oder drei Clubs, die man an einem Abend abklappert, sind es im Cyberspace an die hundert bis tausend. Hundert Clubs an einem Abend?! Mal abgesehen davon, wie man das logistisch überhaupt erreichen könnte, würde man das wirklich wollen? Alleine die Vorstellung, wie viele Eindrücke unser Gehirn verarbeiten müsste, lässt Zweifel aufkommen. Nichts anderes passiert auf Social Media; man besucht hunderte von Partys und bekommt sämtliche Meinungen aller Stereotypen reingedrückt. Von 100 Partys sind vielleicht 5 gut, 10 ganz ok, und 85 rauben uns das Wertvollste im Leben: Unsere Zeit.

Die Monster lechzen nach Lebenszeit

Die zeitfressenden Aufmerksamkeitsjunkies erinnern mich an die Kurzgeschichte »Langoliers« von Stephen King. In besagter Geschichte sind die Langoliers Wesen, welche die Zeit auffressen, nachdem diese vergangen ist. Sozusagen die Müllabfuhr der nicht mehr benötigten Zeit, da ja bereits vergangen. Genau mit solchen Ungeheuern haben wir zu kämpfen, wenn aus gefühlten fünf Minuten Social Media, plötzlich eine Stunde vorbeigerauscht ist. Im Unterschied zu den Langoliers, frisst dir Social Media bei unbewusstem Umgang die gegenwärtige Zeit vom lebendigen und verwelkenden Körper.

Ich kann das verstehen. Du möchtest den einen gelungenen Abend, die Nacht der Nächte, unbedingt nochmals erleben. Da hatte einfach alles gepasst. Dein Outfit sass wie angegossen und zog neidische Blicke auf sich, dein Schwarm hatte nur Augen für dich und die Musik wurde dir auf den Leib geschrieben. Die Zeit schien stillzustehen. So nimmst du nun allen Bullshit in Kauf, der zwischen dir und dieser einen Nacht liegt. Und ehe man sich's versieht, gewöhnst du dich an den Stumpfsinn und bemerkst kaum mehr, was du dir da überhaupt reinziehst. Algo kann extrem hartnäckig sein.

Nun kommt hinzu, dass auf Social Media nicht nur die Disco präsent ist, sondern auch der Buchladen, die Videothek, das Café, das Fitnesscenter, der Reiseführer, der Therapeut, die Nachbarschaft, der Zoo und die Safari. Jeder Bereich des Lebens wird thematisch abgedeckt. Das erhöht Algo’s Macht enorm. Er kann aus einem Fass ohne Boden schöpfen. Aus einem Giftfass.

Die Nacht der Nächte gibt es tatsächlich

Es gibt sie. Absolut. Die guten Inhalte, die einen gewissen Mehrwert bilden, den man ohne Social Media eventuell nicht hätte. Bei mir waren das höchst interessante Empfehlungen zu Büchern & Filmen, die ich nicht kannte, aber genau mein Ding sind. Oder Hintergründe zu historischen oder künstlerischen Werken und vielleicht noch ein paar nützliche Fitnessübungen für den bürogebeutelten Körper. Dies bekommt man auch anderswo, aber vielleicht hätte man diese Informationen nicht entdeckt, wenn sie der immerfleissige Algo nicht vorgeschlagen hätte.

Der eigentliche Mehrwert von Social Media entdeckte ich tatsächlich im Sozialen, oft verbunden mit Humor. Es gibt manch kluge, kreative und auch lustige Inhalte, bei denen ich mehr lachen musste, als bei irgendeiner Sitcom im Fernsehen. Obwohl Social Media auch überflutet ist von Ausschnitten aus ebendiesen Sitcoms. Getoppt wird dies einzig noch vom Gemeinschaftsgefühl, welches dir vor Augen führt, dass du mit deinen Lebenserfahrungen nicht alleine bist. Dies kann man auch so wissen, aber es direkt zu sehen, ist eine andere Ebene. Rein mathematisch gibt es bei Milliarden von Menschen auch tausende unter ihnen, die Ähnliches erleben oder erlebt haben. Und diese sonst verborgene Dunkelziffer, wird in Social Media plötzlich sichtbar. Die Kommentarspalten von gewissen Themen sind herzerwärmend, aufbauend und positiv. Es wird auf die Schulter geklopft, der Rücken gestärkt, Komplimente gemacht, Mut zugesprochen und Erfahrungen geteilt. Keine Beleidigungen, keine Diskriminierung, keine Respektlosigkeiten. Wie Blumen, die aus einem Misthaufen spriessen.

Doch es bleibt ein Balance-Akt auf Messers Schneide. Fällt man runter, steckt man tief im Dreck. Es ist fast unmöglich, nur die positiven Bereiche von Social Media zu destillieren, zu sehr drückt einem Algo immer etwas aufs Auge, das nicht nur Zeit sondern auch Hirnzellen frisst. Oder man biegt komplett falsch ab und hängt Verschwörungsmythen oder gefährlichem Gedankengut nach.

Nutri-Score für Inhalte

Mein Vorschlag lautet, einen Nutri-Score für Inhalte im Internet anzubieten. Dieser soll aussagen, wie sehr ein Inhalt positiv oder negativ aufs Seelenheil abfärbt. Meiner Meinung nach ist das ziemlich leicht einzuordnen und könnte man an objektiven Faktoren festmachen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz liessen sich anhand solcher Kriterien Inhalte überprüfen und automatisch kennzeichnen. Ich wäre auch dafür, endlich solche Kategorien und Filtermöglichkeiten bei News-Seiten einzuführen. Die stehen Social Media im Durst nach Tod und Gewalt in nichts nach. Mir ist es schleierhaft, wie viele Mord- und Totschlag-Nachrichten die Menschen noch lesen wollen. Zumindest sollte man den Menschen die Wahl an die Hand geben.

Das Thema Social Media ist tiefschichtiger und wird immer mehr Platz einnehmen, zumal die grossen Tech-Akteure fleissig am »Metaverse« basteln, was Social Media mit der Matrix vermischt. So schlecht der Ruf von Social Media sein mag, bewusst und portioniert genutzt, kann man seine Zeit durchaus positiv und bereichernd verbringen. Oder man fällt den fragwürdigen und ausgetüftelten Zeitfallen der technischen Puppenspieler zum Opfer und wirft seine Lebenszeit in die gefrässigen Rachen der Kreaturen von Stephen King.

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Chris Casutt

RealizationZone, Geschäftsführer

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