Im Alter mehr zu fragen ist nicht gefragt
Fragen sind die Wurzeln der Erkenntnis, der Zündstoff lodernder Leidenschaften und der Treibstoff aller Ideen. Ohne Fragen wäre ein Fortschritt jeglicher Art nahezu undenkbar. Sie kleiden sich ebenso vielfältig wie die Launen der Menschen: «Hast du zugenommen?», kann verletzen, «Willst du mich heiraten?», kann Freude schenken, «Was guckst du so blöde?», kann provozieren. Für jede Laune gibt es die scheinbar passende Frage. Sie alle beherrschen wir perfekt, mit Ausnahme der Kinderfragen: «Wie funktioniert das?», «Warum ist etwas so wie es ist?» und «Warum machen wir das alles?»; All das hört man von Erwachsenen eher selten. Aus dem Mund eines Kindes hören sich diese Fragen etwa so an: «Warum müssen wir ständig atmen?», «Wie viele Tropfen fallen vom Himmel wenn es regnet?», «Wie gross ist der Regenbogen?», «Warum weinen wir?», «Wer hat das Geld erfunden?», «Warum ersticken Wale nicht beim Schlafen?», «Kann ein Baby zum Nabel rausschauen?»
Was sich für viele skurril, witzig und für überforderte Eltern oft nervig anhört, ist der pure Quell des freien Geistes. Völlig frei von auferlegten Zwängen und frei von Ängsten. Wenn Sie auf solche Fragen genervt reagieren, oder sogar das Fragen verbieten, dann haben Sie erfolgreich die geistige Beschneidung ihres Kindes lanciert und vorangetrieben. Was nicht heisst, dass Sie schlechte Eltern sind. Sie haben Ihrem Kind sogar beigebracht, wie es sich zukünftig in der Gesellschaft zu verhalten hat: Funktionieren statt fragen und handeln statt denken. Die grenzenlose Phantasie, der sprudelnde Quell der Neugierde und die etwas andere Sicht der Dinge werden so im Keim erstickt und verlernt. Man fängt an, die Fragen zu hinterfragen, um nicht als dumm dazustehen oder zu nerven. So sterben Träume.
Was bleibt? Viele arrangieren sich verbittert mit dem farblosen Leben, weil man vorgelebt bekommen hat, die Schnauze zu halten, den Geist zu zügeln und zu tun was verlangt wird. Meine Frage: Könnte eine Gesellschaft existieren, in der das nicht so wäre?
Dieser Artikel wurde am 24.08.2015 in folgenden Zeitungen publiziert:
Südostschweiz Graubünden, Südostschweiz Glarus, Südostschweiz Gaster/See sowie Sarganserländer.